Die Utopien des Adalbert Stifter –
Der böhmische Autor malte den Himmel, um die Hölle umso wirkungsvoller zu zeigen
Stifter gilt als Inbegriff der Langeweile.Wer sich davon nicht abschrecken lässt, entdeckt eine geradezu subversive Kraft in den Texten des vor 150 Jahren gestorbenen Biedermeier-Autors aus dem südböhmischen Oberplan.
Wenn Literaturprofessoren überfüllte Hörsäle vermeiden wollen, dann setzen sie Adalbert Stifter auf den Lehrplan. Die meisten Studenten machen allein deshalb einen großen Bogen um das Seminar, wenn sie im Zusammenhang mit Stifter das Wort Biedermeier hören. Wenn das nicht abschreckt, dann wenigstens der Roman „Der Nachsommer“, für den es für jeden Studenten die Höchststrafe bedeutet, wenn er darüber eine Seminararbeit schreiben soll.
Was gab es nicht alles für vernichtende Urteile über diesen dicken Bildungsroman! Das prominenteste stammte vom Dramatiker Friedrich Hebbel: „Drei starke Bände! Wir glauben Nichts zu riskieren, wenn wir Demjenigen, der beweisen kann, dass er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.“
Es gehört tatsächlich eine gehörige Portion Masochismus dazu, sich freiwillig einer Lesetortur zu unterziehen, die einen mit ausführlichen Beschreibungen von Landschaften, Gärten, Kunstgegenständen und Wohnmobiliar erschlägt. Wer hier zu Ende liest, ist ein Held: „Die Zimmer im zweiten Stockwerke des Hauses waren geblieben, wie sie früher gewesen waren. Sie sahen so aus, wie sie gerne in weitläufigen alten Schlössern auszusehen pflegen. Sie waren mit Geräten vieler Zeiten, die meistens ohne Geschmack waren, mit Spielereien vergangener Geschlechter, mit einigen Waffen, und mit Bildern, namentlich Bildnissen, die nach der Laune des Tages gemacht …“ Brechen wir hier mal besser ab, bevor das Schlafmittel wirkt.
Stifter hatte sich früh die Kunstmalerei beigebracht. Seine Vorliebe galt Bildern der Voralpenlandschaft. Und das macht sich auch in seinen Werken bemerkbar: Es sind Landschaftsbilder, in die er als Farbtupfer ein paar Personen eingezeichnet hat. Ein Porträtmaler, der ganz dicht vorm Modell sitzend die Seele einer Figur abbildet, war er nie. Die meist idyllische Landschaft war für ihn Spiegelbild eines sittlich-harmonischen Seelenlebens.
Am schönsten gelang ihm dies in seinen Erzählungen. Dort greifen Naturgewalten in fatalistischer Weise in das Leben der Protagonisten ein: Ein Gewitter löst in „Abdias“ Glück und Unheil aus; die Rettung vor einem Wolfsrudel bringt in „Brigitta“ ein Liebespaar zusammen; und im dichten Schneefall verirren sich in der sogar verfilmten Weihnachtserzählung „Bergkristall“ an Heiligabend zwei Kinder im Hochgebirge, ehe ihre Rettung nach einer Nacht in eisiger Kälte eine bis dahin in frostiger Starre lebende Dorfgemeinschaft miteinander versöhnt.
Schrieb Stifter in seiner frühen und mittleren Phase ausschließlich Erzählungen, die er vornehmlich in den Bänden „Studien“ und „Bunte Steine“ versammelt hat, so ragen in seinem Spätwerk mit dem „Nachsommer“ und „Witiko“ zwei monumentale Romane heraus, die seinen Ruf als eintöniger Prosa-Autor zementierten.
Es war zuerst Nietzsche, der in „Menschliches, Allzumenschliches“ eine Ehrenrettung vornahm und den „Nachsommer“ zu jenen wenigen Werken deutscher Prosaliteratur zählte, die es verdienten, „wieder und wieder gelesen zu werden“. Und erst Thomas Mann erkannte das Subversive bei Stifter, wenn er schreibt, „daß hinter der stillen, innigen Genauigkeit gerade seiner Naturbetrachtung eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam ist.“
Die harmonische Idealwelt seiner Werke stand geradezu im Widerspruch zu Stifters Lebensrealität. Sein Vater, ein Leinweber, stirbt bei einem Arbeitsunfall, der 1805 geborene Halbwaise wird auf die Benediktinerschule in Kremsmünster abgeschoben. Er scheitert mit einem Jurastudium in Wien und verdingt sich als Hauslehrer unter anderem für einen Metternich-Sohn. Er scheitert mit seiner Liebe zu einer Frau aus reicher Familie und geht eine Zweckehe mit einer Putzmacherin ein. Er scheitert als Schulrat mit einem Lesebuch für Realschulen, das nicht veröffentlicht wird. Er scheitert als Erzieher einer Ziehtochter, die mehrfach ausreißt und zuletzt tot in der Donau gefunden wird. Und in Linz scheitert er mit einem eigenen Selbstmordversuch. Wegen seiner durch Fresssucht ausgelösten Bettlägerigkeit schnitt sich der Todkranke am 26. Januar 1868 die Kehle durch. Die Wunde konnte man schließen, trotzdem starb er, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, zwei Tage später an Leberversagen.
Das Versagen im realen Leben bildet einen auffällig starken Kontrast zur heilen Idylle in seinen fiktiven Werken. Im „Nachsommmer“ leben ein paar aristokratische Müssiggänger in einer nahezu abgeschotteten utopischen Welt, in der sie ungestört ihre Idealvorstellung vom Schönen in Kunst, Wissenschaft und Liebe realisieren. Das Buch müsste eigentlich Pflichtlektüre für alle grün Angehauchten sein, bewirtschaftet darin ein Freiherr von Riesach doch eine Art Biohof inklusive natürlicher Schädlingsbekämpfung durch Anlocken von Vögeln. Sogar das Wort „nachhaltig“ taucht bei Stifter schon auf.
So wie Stifters alter ego Riesach die Schädlinge fernhalten will, so auch alle modernen Einflüsse. Das „Alte“ in Kunst und Malerei ist es, was ihn und seinen jugendlichen Begleiter, den Wandergesellen Heinrich Drendorf, in Verzückung versetzt. Dazu betreibt Riesach auf seinem Ökohof eine Restaurierungswerkstatt, in der er mittelalterliche Kunstwerke und antike Statuen instandsetzen lässt. Und dabei gewinnt der Roman, der alles Zeitgeschichtliche konsequent ausblendet, sogar eine politische Dimension: Der Autor, der aus armen Verhältnissen kommend zum ehrenamtlichen Landeskonservator für Oberösterreich der k.k. Zentralkommission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale aufstieg, feiert als erklärter Konservativer hinter dem Deckmantel der kunsthandwerklichen die politische Restauration seiner von Revolutionen geprägten Epoche.
Die idealisierte Kuschelwelt Stifters ist aber alles andere als eine mit rosarotem Stift gezeichnete Trivialliteratur. Die Eintönigkeit, mit der sich alle liebhaben, mit der Familie, Kirche und Obrigkeit auf enervierende Weise Respekt gezollt wird, wirkt wie eine grau an gemalte, subversive Utopie. Wäre man nicht im Biedermeier, könnte man von einer Verfremdungstechnik sprechen, mit der Stifter das reale Grauen unter der Oberfläche seiner Idylle indirekt hervorscheinen lässt. Er überlässt es dem Leser, durch quälende Lektüre diese Leerstellen zu erfassen und auszufüllen.
Noch mehr Scharfsinn erfordert die Lektüre des „Witiko“. Mit dem Epos über den südböhmischen Nationalhelden wollte Stifter die literarische Königsdisziplin, den Geschichtsroman à la Walter Scott, bewältigen. Im Roman erscheint der tugendhafte Witiko als derart übertrieben idealisierte Lichtgestalt, dass man nur das Gegenteil von ihm denken kann: ein ehrgeiziger Krieger, der auch über Leichen gehen kann. Als der Roman während der NS-Zeit richtig populär wurde, hat man diese Schattenseiten gern überlesen. Später benannten die Sudentendeutschen sogar einen Verein, den Witikobund, nach Stifters Helden.
Stifter ärgert und fasziniert zugleich. Er malte den Himmel, um die Hölle zu zeigen. Dieser „merkwürdigste, heimlich kühnste und wunderlich packendste Erzähler der Weltliteratur“ (Thomas Mann) langweilt, um zu begeistern.
Preußische Allgemeine Zeitung
Nr. 4, am 26. Januar 2018
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