Der tschechische Stifter oder: der Stifter der Tschechen


Nun, meine Damen und Herren,
Sie werden es wahrscheinlich nicht wissen, aber Oberplan, Horní Planá, ist für meine Generation eine Spukadresse. Die Nachkriegskinder der alten Tschechoslowakei haben nämlich Angst gehabt, hier irgendwo als Soldaten dienen zu müssen. In dieser Gegend machte sich die sogenannte Grenzwache breit. Eine besonders humane Einheit der Volksarmee, die damit beauftragt war, jeden umzulegen, der das Glück im Lande verlassen wollte.
Beinahe ein halbes Jahrhundert lang hat man gesungen. "Oberplan, bin ich dran, willst du mich verschlingen?"

Ich habe natürlich diesen Choral der Verzweiflung ein wenig veredelt. Denn es war hier das Ende der Welt, das mit dem des Verdauungstraktes verglichen wurde. Keine Landschaft der Idylle, kein Ort der Verehrung, keine Ästhetik als Ethos. Nur die höheren Etagen der Landschaft ragten auch damals noch "stiftermäßig" empor.
Wildwüchsig geworden und mit jener Ambivalenz beladen, die der Dichter, ungeachtet seiner Liebeserklärungen, zu fürchten gelernt hat. Ja, selbst die Moldau - sein Fluss und die Ader der Landschaft - ist einem Staudammsee gewichen, den der Volkswille hierher platziert hat. Er hatte andere Kräfte besingen wollen als Stifter.
In Versen wie: "Wir befehlen dem Winde, wann er zu wehen und dem Regen, wann zu regnen!" So war die Masche.

Es hat zwar nicht ganz geklappt – und hätte der Autor Stifter gelesen, wäre er vielleicht moderater, nichts desto trotz ist hier später eine Erholungszone entstanden – mit Kanus und Minisegelschiffen. Denn nach so einem Tatendrang muss man sich erholen. Aber "ein lieblich im Walde liegendes Marktstädtchen, mit seinen Wiesen und Feldern" wird man in dieser Form hier nicht mehr finden.

Und dennoch – etwas ist übrig geblieben. Fast wundersam und gewiss nicht dem Plan der Oberplaner in Prag entsprungen, steht hier noch immer das Geburtshaus Stifters. Als hätte sich das "Sanfte Gesetz" realisiert, an das er glaubte.

Stifter war dem Regime ein rückständiger Spinner, der schon die bürgerliche Revolution verachtet hatte. Diese klägliche Vorstufe der echten, der unsrigen. Galt er also zuerst als altösterreichisch, dann wieder als lokal deutsch. Man erinnere sich an die polemischen Versuche der völkischen Ära, die aus ihm das Gegenstück zu unserem Mythos konstruieren wollte. Ja, sogar an Deutungen, die aus ihm einen Vordenker des Großgermanischen konstruiert hatten. Und gefährlicher noch, es gab deutschsprachige Genossen – wie Georg Lukács. Die ihn bereits entlarvten, als Gefahr für den Optimismus des Aufbaus und Umbaus der Welt. Es sah nach einer Pflicht aus, den Dichter auch unsererseits zu demaskieren.

Warum es eigentlich nicht geschah, bei all der rassigen Wucht, die uns in anderen Fällen charakterisierte, bleibt schleierhaft. Ich glaube beinahe, dass die Natur selbst es war, in Stifters Augen sonst teilnahmslos, die hier ihre Anteilnahme zeigte. Oder, und dies klingt noch wahrscheinlicher: wir selbst haben uns gefürchtet, dass dabei auch unsere Maske fällt und allen endlich klar wird, dass dieser Stifter ein Sinnstifter ist. Ein Mitgestalter unserer eigenen Selbstheit.

Auch wir nämlich, wenn auch stillschweigend (aber umso intensiver), halten uns für Kinder und Erben eines Ortes la Planá, eines Ober- oder Unterplans im Böhmischen. Und spüren in diesem Stifter, ungeachtet allem hin und her der Bewertung seiner Werke, einen Findling – bei dem wir lieber keinen Vaterschaftstest verlangen.

Wenn ein tschechischer Leser zum Beispiel die prachtvolle Schilderung des Tannenwaldrauschens in den "Bunten Steinen" kennt, so denkt er sofort an den tschechischen Namen des Landstrichs. An die "Sumava". Das Summende, wie wir den Böhmerwald bezeichnen. Auch wir halten uns für Kinder des "Ecosystems". Wir besingen uns sogar als solche in unserer Hymne, die in ihrem Bildgut von Stifter selbst hätte stammen können, weil sie die tschechische Heimat so böhmisch feiert. Geschrieben im Biedermeier, schildert sie unser Land als Ort, wo "hoch in den Felsen der Tannwald rauscht und in den Auen die Wasser rasseln".

Und nicht nur hier, sondern in vielen unserer Bücher, noch lange nach dem Ausklang der Ära der Niedlichkeit, figurieren Nagel, Kräuter, Feldblumen und all das idyllische Zeug der VorMärz-Sensitivität. Selbst die Moldau haben wir gerettet.
Zumindest musikalisch. Sie murmelt noch immer in der "Vor-Staudamm-Schönheit" in Smetanas symphonischer Dichtung.

Auch das Grundwerk unserer Prosa hat klare Züge dieser Inspiration. Es heißt "Großmutter" und wurde von einer Wienerin unklarer Herkunft geschrieben, die zur Ahnfrau des neutschechischen Selbstgefühls wurde, zu unserer – Magna Stifterin.
So wie in Oberplan einst die Oma Ursula, eine Häuslertochter, dem kleinen Adalbert seine literarische Initiation geschenkt hat, so initiiert eine Magdalena Novotny den Werdegang ihrer Enkelin und macht aus einer Barbara Pankl die Božená Němcová, eine tschechische Literatin. Und diese Divina Němcová (Božená heißt die "Göttliche") baut dafür ihrer Omi ein Denkmal und uns das Mahnmal der Erdverbundenheit und Sanftmut.

Denn die Erzählung feiert ebenfalls eine Chronistin des Tales voller Leinweber, die Erzählerin der Kleingeschichten aus der Alten Bleiche, Vorsängerin der Lieder und Spenderin der Spruchweisheiten von dauerhaftem Wert. Auch in diesem Tal voller Niedlichkeit herrscht eigentlich der Wald als Symbol der Geheimnisse und dunkler Elemente, in dem ein liebes- und geisteskrankes Mädchen sinnbildlich stirbt, erschlagen vom Blitz. Auch hier ist das Leben eine Überwindung chaotischer Kräfte durch Maß und Selbstzucht, auch hier glaubt man, das Gute sei "treuherzig nur auf dem Lande und bei den armen Menschen zu finden". Als Stifters jüngere Zeitgenossin, die jedoch noch vor ihm stirbt, erleidet Němcová eine schicksalsreiche Vita. Reist durch das Südböhmische und erzählt es weiter. Nur das Oberplan ihres Buches liegt im Norden, unter dem Riesengebirge. Auch hier aber geht es um einen poetischen Raum, den man sich "zugehörig" machen kann – mit Worten. Und auch hier entsteht ein unverwechselbarer Sprachduktus, der das Erzählte ins Erklärende wandelt und eine Klarheit des Handelns stiftet. Es ist eine Art "Bewohnbarkeitsstrategie" für unsere Welt. Das "Wie" des Narrativs ist auch das "Wie" des Lebens.

Und diese tschechische Liebelei mit Stifter ist zugleich eine Art alter Liebe. Sein Leben, das mit der Schlacht bei Austerlitz beginnt und kurz nach Königgrätz endet, wird gewissermaßen auch historisch-politisch an das gebunden, was sich heute Tschechien nennt. Die beiden Daten markieren nämlich jenen Zeitraum, in dem sich der Einbruch des Nationalen in einen nationalistischen Output verwandelt – mit all den Konsequenzen für Mitteleuropa.

Für mich ist somit das Spannendste an diesem Literaten sein Ringen mit diesen Kräften um ihn herum, aber auch in ihm selbst. Denn die Nation als Begriff und Handlungsweise bedeutete nicht nur, dass aus den Leinenwebersöhnen anerkannte Schriftsteller geworden sind, sondern sie zeigt auch deren verborgenen "Status-Schmerz" über die immer noch andauernde soziale Kluft. Das machte nicht nur Stifter unglücklich (siehe seine Liebe zu Fanny Greipl), es brachte generell ein ständiges Hin und Her zwischen Revolte und Resignation.

Wie jeder Autor musste auch er spüren, dass das Maßlose und Ungeheure in uns schneller zu haben ist, als das Harmonische, das er angestrebt und auch geleistet hatte. Die Spannung zwischen Beruf und Berufung produzierte Verbitterung und machte aggressiv. Es ist wesentlich einfacher, sich den Erlösungssprüchen dieser oder jener Ausschließlichkeit anzuschließen, als das Wunder stabilisieren zu wollen, auf dem unser Leben, privat wie planetar, basiert. Das Erstere machte sich in Europa breit. In dessen geistiger Gegend voller Fichtes, Hegels und Marx' war es auch einfacher, sich in die Dienste der Sinn-Sache zu stellen – dem erkannten Ziel der Geschichte, dem "Weltgeist" oder der Mutter Materie – als umgekehrt. Alle diese Denker haben agiert, als wären sie Er-Kenner der einzig richtigen Richtung, und mutierten zu Richtern des Weltgangs. Sie zogen sich Talare an und besetzten die Bänke des Tribunals der Geschichte, das tagtäglich tagte und kontrollierte, wohin der Hase läuft.
Und wehe, wenn er abbiegen wollte!

Aus der Folgerichtigkeit von Entdeckungen im technischen Bereich leiteten sie eine generelle Bestimmbarkeit der Dinge ab. Und einen prophetischen Drang, der auch die Literatur zum Dienstmädchen der jeweils heiligen Sache degradierte. Für Adalbert Stifter jedoch lag das Verpflichtende des Schreibens anderswo. Sein Moralgesetz hatte Kantsche Wurzeln. Es lag bereits in ihm und redete nicht von der "Einsicht in das Notwendige", die erst zu leisten ist, sondern praktizierte schon eine Hinsicht, die das Zufällige unserer Existenz respektiert und wiederholbar macht.

Darum hat er mitten im Gewühl der Revolution "den Stand und die Würde der Schriftsteller" formuliert. Kristallklar verstand er die Freiheit des Wortes als Freiheit vom Hass. So wie das vierundsiebzig Jahre später eine weltweite Organisation getan hat, deren Präsident zu sein ich heute die Ehre habe (Internationaler P.E.N.-Club).

Darum war er betrübt und entsetzt, als er, der klassischer Aufsteiger, zusehen musste, wie sich die anderen seiner Schicht, im Namen des Neuen und Besseren, in alten Gewaltritualen übten. Wie die frische Politur der ehrgeizigen Bildung, "von der Leidenschaft" durchbrochen wurde und alles in ein pathologisches Pathos verwandelte. Er, der Schilderer von Naturkatastrophen, dachte dabei an das unfassbare Substrat unseres Seins, an den "Tsunami-Effekt" der menschlichen Geschichte. Und er entwickelte sein sanftes Gesetz für das Denken und Handeln in der Zeit der Massen und Klassen.

War er utopisch? Naiv und nicht von dieser Welt? Vielleicht. Jedenfalls wollte er nichts wissen – von der List der Vernunft und ähnlichen Sachen. Er dachte sich lieber ein gutes Nirgendwo, in dem das Sinnlose nicht logisiert wird, sondern gemildert.
Stellte sich einen Ort vor, an dem der aufrecht gehende Affe – bei ihm noch vordarwinistisch als der "tigerartige" Mensch bezeichnet – endlich mal auf seinen Kortex setzt und nicht nur auf das Reptilienhirn. Es war die Erkenntnis des Maßes und dessen Wichtigkeit. Es war die Erahnung der Zusammenhänge. Sein scheinbares Nirgendwo war somit ein fester Punkt innerhalb entfernter Kontexte. Eine Synopsis darin, ein Knoten im Netz der seienden Dinge. Kein Soll, erzwingbar mit Hilfe von Revolutionen, aber ein evolutionäres Haben.

In seinen Texten ist ständig eine Art Trias präsent - Wald, Mensch und dessen Zuhause-Sein, mit anderen Worten: das unbändige Substrat des Seins, unsere Fähigkeit, sich darin dennoch Relationen zu denken und Mut zu schöpfen, nach solchen zu greifen. In dieser irdischen "Dreieinigkeit" setzte er auf das letztere und verstand es als ein riskantes Unternehmen unserer Biographien, die Welt bewohnbarer zu machen. Aber das Risiko, das er meinte, war ihm ein sanftes. Es war ein Mut zum Feineren. Die Bewohnbarkeit fing also mit der Bemessenheit an – und wirkte auf die radikalere Umwelt von damals befremdlich. Mut zur Mäßigung! Das "Ich" bescheiden! Es klang wie eine Spinnerei der maßlosen Dichter, wie ein Gerede der Fortschrittshasser. Und dennoch, wir wissen heute, dass er richtig lag, dass er nur die Sachlage definierte, einen trockenen Topos unserer Tage. Ohne die Fähigkeit, das Maß zu üben, wird unser Planet bald unbewohnbar und wir alle - das war Stifters Wort dafür- werden nur noch "tigerartig" zu haben sein. Er aktualisierte als erster in unserem Teil der Welt die uralte Tugend der temperantia, und das war eigentlich eine revolutionäre Leistung.

Sein eigenes Zuhause-Sein sah jedoch fragil aus. Nach den Turbulenzen in Wien zog er nach Linz, Schritt für Schritt meldete er sich ab. Und wurde auch abgemeldet. So nah an seiner engeren Heimat hat er die Ewige entdeckt, ein Böhmen am Meer, das schönste Land – ich kann es Ihnen, meine Damen und Herren, versichern – für Literaten. Dort hat er sich wieder gefunden im Meer der Fantasie, dort realisierte er die für mich innigste Verbindung zwischen den Österreichern und Tschechen. Sie dokumentiert die Paradoxie unseres Mit- und Durch-Einander, hebt Polaritäten auf und schafft aus der Polyvalenz die Regel der Einheit.

Sie ahnen schon, ich will über "Vitek" sprechen, den "Witiko". Über seine Geschichte bei uns und mit uns. Sie basiert auf einem Werk aus unserer Küche. Auf der "Geschichte von Böhmen", geschrieben von einem anderen Stifter, dem Palacky, der damit unser neutschechisches Selbstbild begründet hatte. In jener Ära der Nationen sind nicht nur Webersöhne zu Literaten geworden, sondern auch Literaten zu Politikern. Es gab nicht nur die befürchteten Völker ohne Raum, sondern auch sehnsüchtige Völker ohne Staat. Oder besser gesagt: Völker in einem Staat, der ihnen keine eigene Oberschicht anbieten wollte. Und man hat auch generell gespürt, dass eine neue Zukunft eine neue Vergangenheit braucht, als Berechtigungsvorlage aller Ansprüche. Von nun an war alles anders zu erzählen. Nicht episch, wie früher, sondern historiographisch und philosophisch. Überall suchte man nach neuen Zielsetzern. Oder sie meldeten sich selber, wie der bereits erwähnte Mähre Frantisek/Franz, der bei den Tschechen gepunktet hatte. Im vierten Buch seines historischen Panoramas gibt es zwei Kapitel, die den blutigen Erbfolgekrieg im Böhmischen Herzogtum schildern, aus dem am Ende das Königreich Böhmen entsteht.

Stifter las das Buch und hat es – ungeachtet dessen historiographischen ideologischen Anspruchs – homerisch verstanden. In unserem Landesherrn VIadislav aus dem zwölften Jahrhundert sah er einen Agamemnon und im Witiko einen fersenfesten Achilles. Auch seine Sprache, wenn auch ungebunden, lehnt an den alten epischen Duktus an. Der Vitek, Sohn eines Tschechen namens Wok (der Beneš heissen musste, wie die meisten der tschechischen Mannen einer benediktinischen Domäne) kehrt 1138 aus Passau zurück, in die Nähe von Oberplan. Reichlich gebildet und im Alter eines jugendlichen Heroen, verliebt er sich in Bertha von Jugelbach, die baldige Ahnfrau der Witigonen. "Er war ein junger schöner Mann, mit blonden Haaren und blauen Augen, auf seinem Haupte eine schwarze Haube, von der eine Adlerfeder empor stand", schildert ihn Stifter und gibt auch der Bertha einen Anlass, sich zu verlieben.

Ich gebe zu, mir beim neuerlichen Durchblättern des Werkes sofort unseren Pavel Nedvěd, den Superstar bei Lazio Rom, vorgestellt zu haben. Nur ein wenig anders kostümiert. So irgendwie muss der Stammvater der Vitkovci ausgesehen haben, um uns auch diesen Beweis der Erbbewahrung zu liefern. Auch die Szene, in der das künftige Wappenzeichen des Ritters – die rote Rose – begründet wird, hat mich berührt. Bertha schenkt Vitek die Blume mit den Worten, "so möge sie Euch ein Zeichen sein!" und spielt auf den Hügel an, auf dem ihre zahlreichen Nachkommen residieren werden. Sie ahnt nicht, dass der majestätische Rosenberg, von einem uralten "rossa" benannt wird (vorslawisch, vorgermanisch), das Reif oder Feuchte bezeichnet, aus der diese Erhebung emporragt. So wie der Vitek keinen Veit oder Svaty Vit nachahmt, sondern aus einem "wittig" kommt, ein Flachmoor, das schon seine keltischen Ahnen trockengelegt haben müssen.

Ich erwähne dies nicht, um meiner Marotte der Ortsnamendeutung zu huldigen, sondern um Stifter zu loben. Mit seiner erzählerischen Kraft, in der nicht das Faktische, sondern das Fraktale agiert, überwindet und bindet er alle Epochen. Die Handlung bei ihm hat keine Linearität und auch die Individualität wird gemindert, sie gleicht eher einem verlangsamten Blitz oder besser noch, einem der Bäume seines Hochwalds, die er so gerne zeichnete. Sein "Witiko" ist somit ein Roman, in dem der Refrain mehr bedeutet als ein Leitmotiv, Gebet und Zauberspruch, mehr als eine Beschreibung der Gründung, Archaik und Allegorik, mehr als nur Dramatik.
Und mit so vielen Tschechismen, die einen von uns vergessen lassen, dass er eine Übersetzung in der Hand hält, fühlt man sich als Leser der tschechischen Nibelungen. Da sich das Ganze auf dem Vyšehrad (wörtlich Akropolis) oder unter der Vysokä etc. mitten im Haufen von Soběslavs, Načerats, VIadislavs, Bolemils und den Lechs, den älteren des Tschechenstammes abspielt – tja. Man weiß doch, dass wir zu jener Zeit keinen so üppigen, versierten Erzähler gehabt haben. Und später auch keinen, der das "Gesetz der Sanftmut" so verinnerlicht und diese so klare Distanz zur nationalen Politur gewagt hätte. Diese klare Ent-Egoisierung der Akteure, dieser Glaube an eine übernationale Gemeinschaft der europäischen Mitte, das alles schien damals schon zu vielen anachronistisch. Es ging all den komischen Kollektivismen des Obermenschtums gegen den Strich. Und diese mutige Sanftmut erstaunt bis heute.

Der Zeit angepasst wirkten damals Romanzen, die wir über uns selbst erzählt haben. In der tschechischen Prosa etwa ein zu Stifter oft zitiertes vis-a-vis Josef Holecek, aus derselben Gegend, doch er schwadronierte schon über das Blut und den Boden, la nostra.

Und Palacky? Auch er hat sich verändert. Seit 1848 setzte er seine "Geschichte von Böhmen" nur auf Deutsch fort. Für seine tschechischen Leser hatte er eine neue Fassung parat. Sie hieß nun "Geschichte der tschechischen Nation in Böhmen und Mähren" und machte ihn zum "Vater der Nation". Er ist es bis heute geblieben, so dass wir Tschechen ein "mutterloses" Volk zu sein scheinen, da wir keine unserer Frauen ähnlich dekoriert haben – es ist seltsam. Uns bleibt diese Patrogenese. Vielleicht ist Demeter, die Erde, selbst unsere Mutter. Ich weiß nicht. Maybe! Eines blieb jedoch klar, nach unserer Patrogenese, war kein böhmischer Narrativ möglich. Nach dem Anachronismus von "Witiko" kamen die Verehrer des Chronos, des kinderfressenden Zeitgotts, und haben die Vision des Böhmerwald-Dichters belächelt. Die Nationen haben sich auseinander dividiert und einander eine Kette an Kriegen geliefert, deren Vulkanismus dem der Elemente um nichts nachsteht.

Und dennoch – wir erleben es gerade – war Stifter kein Träumer, kein anachronistischer Kauz aus Kakanien. Eher ein "Metachronist", wenn ich diesen Begriff für heute vorschlagen darf, eher ein zeitüberwindender, zeitpendelnder Geist, der eben das betrieben hatte, was anderswo conspicuous consumption der Zeit genannt wurde, eine stolze Vergeudung derselben als Zeichen der sicheren Zukunft.

Der "Witiko" war erschienen, Königgrätz vorbei und Stifter dem Tod nahe. Die Aussichten seiner "Temperamentia", verglichen mit denen der Bivalenz der Rechthaberei, boten dem Optimismus keinen Anlass. Und dennoch gleicht heute endlich die Landkarte Europas, politisch betrachtet, der vor Königgrätz. Lasst uns sie nutzen! Lasst uns auch endlich einen gemeinsamen Narrativ finden, Witiko freut sich schon, tragt andere dresses und spricht fließend die Sprachen des Spieles. Es ist kein "Rangordnungsspiel", es ist ein lustiges Puzzle der "Temperamentia". Temperamentvoll und dennoch harmonisch. Manche glauben noch, es nicht lernen zu müssen.
Aber die Sicht der Dinge, die Adalbert Stifter uns vor 138 Jahren geschenkt hatte, war schon damals ein Pragma. Sie sah die Dichte der Dinge, die Nähe der Ferne, all das nämlich, was wir in unseren Tagen ganz unpoetisch als "global" bezeichnen. Sie sagte leise, aber beharrlich: wartet ab, der Fluchtpunkt, den ich meine, ist planetar.
Er ist der Wohnort der Menschen. Konkret und konstruktiv, denn letztendlich leben wir alle in einem kleinen böhmischen Dorf am Rande des Weltalls, das seine Anmut aus dem Maßvollen schöpft.

Ein anderer Dichter aus Böhmen, ein Bewunderer Stifters, der im Unterschied zu dem Oberplaner das Meer tatsächlich erleben durfte, schrieb in seinen "Duineser Elegien" diesen Satz: "Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang". Er hat darin die verborgene Sinnlosigkeit des Lebens wundersam ästhetisiert. Denkend an Stifter höre ich heute den Passus ethisch. Nach Stifter müsste er eigentlich lauten: Es ist aber gleichfalls des Schrecklichen Ende.

So hätte das viel leicht der Mann formuliert, der sich als Adalbertus Stifter, Bohemus Oberplanensis bezeichnet hatte und der, ich bin mir sicher, auch Poeta Europaeuset Magister Temperantie, heißen hätte müssen.

Ein Dichter der Mäßigung Europas – Magister der Milde.

Autor: Jiří Gruša


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Jiří Gruša, geboren 1938, studierte Philosophie und Geschichte in Prag. Er war (Mit-)begründer zweier Literaturzeitschriften, arbeitete als Redakteur und war darüber hinaus als Lyriker, Prosaist, Essayist und Übersetzer (Rilke, Kafka) tätig. Gruša nahm 1968 am Prager Frühling teil. Er wurde mit Berufsverbot belegt, unterzeichnete die Charta 77, wurde strafrechtlich verfolgt und ausgebürgert. Ab 1983 lebte er als freier Schriftsteller in der BRD und kehrte während der "samtenen Revolution" nach Prag zurück, wo er zum Botschafter in Deutschland (1990 bzw. 1993) und Österreich (1998) bestellt wurde und kurzfristig Bildungsminister (1997) war. Seit 2003 ist er Präsident des internationale P.E.N-Clubs.